Die „gute Polizey“ umschrieb bis ins 17. Jahrhundert einen Zustand guter Ordnung des Gemeinwesens sowie der allgemeinen Wohlfahrt. Wäre das auch jetzt wieder eine Perspektive? Denn zu den Wegen, die sich derzeit gesell­schaftlich eröffnen, obwohl sie vor wenigen Wochen noch unbenennbar schienen, gehört die Abschaffung der Polizei als Repressionsorgan. In den USA wird bereits von einer Police abolition-Bewegung gesprochen. Und schon erscheint die in Deutschland in Aussicht gestellte Auflösung des Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr (KSK) als nahe­liegende Konsequenz ihrer Verstrickung in rechte Strukturen. Denn auch, wenn Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer drei von vier Einheiten noch eine letzte Chance zusichert - an deren Erfolg wird gezweifelt: Dies sei wie einen Fuchs in den Hühnerstall zu sperren und ihn aufzufordern, dort in sich zu gehen und endlich Vegetarier zu werden. In Minneapolis, wo George Floyd unter dem Knie eines Polizisten erstickte, schätzte der Stadtrat die Chance auf einen Umbau der Polizei ähnlich ein unmittelbar danach.

Bei police abolition soll die Tätigkeit von Polizist*innen durch einen Prozess der Auflösung, Entmachtung und Ent­waffnung der Polizei transformiert und von anderen Teilen der Gesellschaft und/oder öffentlichen Institutionen über­nommen werden. Der US-amerikanische Soziologe Alex Vitale vertritt diese Forderung seit Jahren öffentlich. In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit formuliert er:

ZEIT ONLINE: Ihre Alternative zu Polizeireformen heißt police abolition – also die Abschaffung der Polizei. Das klingt extrem. Was meinen Sie damit konkret? Vitale: Wir müssen radikal umdenken und uns die Frage stellen, was die beste Strategie ist, unsere Probleme anzugehen. Ist es sinnvoll, Polizisten in Problemschulen zu schicken oder sollten wir nicht lieber Psychologen, Sozialarbeiter und Assistenzlehrer einstellen? Ist es sinnvoll, Drogenabhängige zu kriminalisieren oder sollten wir ihnen nicht lieber die Möglichkeit geben, in sicherer Umgebung zu konsumieren und professionelle Hilfe zu suchen? Ist es sinnvoll, die Polizei mit ihren Pistolen, Handschellen und Pfefferspray zu schicken, wenn jemand einen psychischen Notfall hat, oder sollten wir nicht lieber eine bessere lokale medizinische und therapeutische Infrastruktur aufbauen, sodass für die Menschen echte Anlaufstellen existieren? ZEIT ONLINE: Das mag ja in der Theorie gut klingen, aber wie lässt sich das praktisch bewerkstelligen? Vitale: Bürgermeister und Stadträte müssen auf ihre lokale Bevölkerung hören und ihr das Wissen und die Mittel geben, ihre konkreten Pro­bleme zu identifizieren. Dann müssen sie gemeinsam Strategien entwickeln, die Probleme anzugehen – ohne die Polizei.

Die ebenfalls oft gehörte Forderung defund the police, also die Finanzierung der Polizei zu kürzen oder ganz einzustellen, geht in eine ähnliche Richtung: Aufgaben der Polizei auf Soziale Dienste wie Jugendarbeit oder psychologische Krisen-Intervention umzu­verteilen und Grundbedürfnisse wie nach Gesundheitsversorgung, Bildung oder einer Wohnung zu befriedigen, um Kriminalität gar nicht erst aufkommen zu lassen. New York, Los Angeles und andere Städte gehen ebenfalls erste Schritte in diese Richtung. Gleichzeitig zeigte schon eine Studie der als Commons-Forscherin mit dem sog. Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichneten Elinor Ostrom, dass je größer eine Polizeistation ist und je mehr Geld sie erhält, desto weniger gute Arbeit und Erfolge kann sie vorweisen. Der Grund: Je kleiner die Polizeistation ist und je weniger Geld sie hat, desto mehr kümmern sich die Menschen selbst; mal gemeinsam mit der Polizei, mal ohne. Dafür ist eine Veränderung der städtischen Institutionen notwendig, aber je mehr sich eine Kultur des Kümmerns entwickelt, desto weiter kann in diese Richtung gegangen werden - auch des kollektiven Kümmerns, und auch in Situationen, in denen sich Menschen nicht kennen. Letztlich ginge dies mit einer funda­mentalen gesellschaftlichen Transformation einher. Gerade auch um hierfür den Horizont zu erweitern, wird das plakative abolish the police zum Slogan gewählt.

Kern der Absage an eine Reform bestehender Polizei ist aber ebenfalls deren historische Entstehung im Zuge der (kolonialen) Eigentumsordnung bzw. von rassistischen und klassistischen Herrschaftsstrukturen. Die Anfälligkeit für eine rechte Durchsetzung wird damit nicht als zufällig angesehen, sondern als Ausdruck dieser Verstrickung.

Bundesinnenminister Horst Seehofer ließ dieses Wochenende verlauten, er sehe keinen Bedarf an einer Unter­suchung zu Racial Profiling, also der anlasslosen Kontrolle nach rassistischen Kriterien durch die Polizei. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) hatte dagegen nicht erst jüngst solch eine Studie von Deutschland eingefordert, sondern weist seit Jahren in jedem Bericht wieder auf die rassistischen Blindstellen der Polizei hin - sowie aller möglichen anderen deutschen Institutionen.

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