Die Autoindustrie vor und nach Corona: Eine Abkehr vom Autoverkehr "statt Rezepte von gestern", fordern Wissenschaftler*innen, Gewerkschafter* und Politiker*innen. „Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Todeszahlen bei COVID-19 vermutet“, lautet zeitgleich eine Schlagzeile in den Medien. Und direkt darunter eine weitere: „Volkswagen fordert staatliche Kaufprämie in Coronakrise“.

Zunächst zur am Montag veröffentlichten Studie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Diese zeigt anhand konkreter Zahlen, dass Regionen mit einer dauerhaft hohen Schadstoffbelastung deutlich mehr COVID-19-Todesfälle als andere zu verzeichnen haben. Da das vor allem durch den Straßenverkehr ausgestoßene Stickstoffdioxid in der Luft die Atemwege des Menschen schädigt und auch Herzkreislaufbeschwerden begünstigen kann, liegt die Vermutung eines Zusammenhangs nahe.

Bei der Forderung der Industrie nach Anreizprogrammen für den Kauf von Autos gilt als Vorbild die Abwrackprämie nach der Finanzkrise 2009. Autobesitzende wurden dafür belohnt, ihr altes Fahrzeug zu verschrotten und ein neues zu kaufen. Wie heute wieder wurde dies auch damals als Anreiz für den Erwerb effizienterer Modelle beworben. Heute gilt diese Maßnahme gemeinhin als umweltpolitisch desaströs und als eine der teuersten klimaschädlichen Subventionen überhaupt: Nach einer Studie des Center für Automobilmanagement (CAMA) der Universität Duisburg-Essen verschlang die Abwrackprämie rund 3,8 Milliarden Euro aus der Staatskasse und damit knapp 12.400 Euro pro zusätzlich verkauftem Fahrzeug. Vor allem aber befeuerte sie den Klimawandel: Fahrzeuge wurden verschrotten, die noch Jahre hätten genutzt werden können. Ersetzt wurden sie nach einer Studie der OECD durch Fahrzeuge, die zwar effizienter, doch im Durchschnitt stärker motorisiert waren, und damit häufig höhere CO2-Emissionen aufwiesen.

Dennoch ist nicht erstaunlich, dass die Industrie gerne eine Neuauflage hätte - zumal der Autoverkauf schon vorher rückläufig war. Allein im Jahr 2018 sank die Produktion um zehn Prozent, 2019 um weitere acht Prozent. Aus Klimaschutzgründen eine sehr erfreuliche Entwicklung. Diesen Zusammenhang sieht auch Stefan Wolf, Vorstand des Verbandes der Deutschen Autoindustrie: „Ich bin absolut für Klimaschutz, die Frage ist nur, wo liegt die oberste Priorität.“ Seine Präsidentin, Hildegard Müller, hatte vor drei Wochen verlauten lassen: "Das ist jetzt nicht die Zeit, über weitere Verschärfungen bei der CO₂-Regulierung nachzudenken".

Die Frage nach der Priorität findet sich auch im eingangs genannten Papier zur Abkehr vom Autoverkehr: "Bleibt es bei dem vorherrschenden Autoverkehr und kommt es gar, wie von der Autolobby derzeit gefordert, zu dessen Verstärkung, so wäre das Ergebnis eine enorme Verschärfung der Konkurrenz auf den Straßen und, was die Produktion betrifft, um Märkte und Marktanteile, ein intensivierter Raubbau an Rohstoffen und Bodenschätzen sowie eine weitere Vergiftung unserer Umwelt, die für viele Menschen, besonders in den Herkunftsländern der Rohstoffe im globalen Süden, existenzbedrohend ist. Die Unternehmen wollen die Krise nutzen, um Arbeitsschutz, Verkehrssicherheit, Klima- und Umweltschutz zu deregulieren. Diese Rezepte von gestern helfen nicht aus der Krise, sondern führen in die nächste, noch schärfere Krise."

Dabei entwirft das Papier zugleich eine Perspektive für „gutes Leben für alle“. Die Corona-Krise bedeute Leid oder sogar Tod, gehe gesellschaftlich aber auch mit anderen Erfahrungen einher: „Die Produktion wird auf das gesellschaftlich Notwendige heruntergefahren; Sorgearbeit und Infrastrukturversorgung erweisen sich für alle sichtbar als diejenigen gesellschaftlichen Bereiche, die wirklich ‚systemrelevant‘ sind [...] Autofabriken und Zulieferbetriebe stehen still oder bauen Atemschutzmasken und Medizintechnik“. All dies zeige: Konversion, also der am gesellschaftlich und ökologisch Sinnvollen orientierte Umbau der Produktion, sei denk- und machbar.

Damit einher gehe, dass für viele Entschleunigung und ein Anstieg von Lebensqualität zur Alltagserfahrung werde: „Die Facharbeiterin in der Autofabrik beginnt zwecks Entzerrung in der Werkstatt um 7 Uhr früh und wird von ihrem Kollegen um 13 Uhr abgelöst: 6-Stunden-Arbeitstag, kurze Vollzeit mit vollem Lohnausgleich. Weniger Autos auf den Straßen lassen mehr Raum für die Einrichtung breiterer Fahrrad- und Fußwege. Die Abnahme des Autoverkehrs macht die Städte lebenswerter und öffnet den Menschen den Blick für die Entbehrungen und Zumutungen der autogerechten Stadt, die sie bislang als selbstverständlich und normal akzeptiert haben.“

So könne gutes Leben aussehen, „wenn der Reichtum umverteilt wird, wenn wir aufhören, für Profit zu produzieren und stattdessen die Produktion dauerhaft auf das sozial-ökologisch Sinnvolle und Notwendige umstellen. Werbung, die Produktion von Kriegswaffen, riesigen Kreuzfahrtschiffen und Millionen von Autos sowie der teure Bau neuer Autobahnen könnten der Vergangenheit angehören. Die Privilegierten würden entprivilegiert, das Leben für alle würde besser, die Wirtschaft wäre für die Menschen da, nicht umgekehrt. Dass dies möglich ist, lehrt uns die Krise. Jetzt kommt es darauf an, die Weichen dafür zu stellen, dass die Gesellschaft aus diesen Erfahrungen lernt und nicht nach kurzer Zeit wieder in den sozial-ökologisch verheerenden Vorkrisenmodus zurückkehrt – auch, um die drohenden noch größeren Verwerfungen durch die heraufziehende Klimakatastrophe zu verhindern.“

Das Papier in voller Länge: https://www.labournet.de/branchen/auto/auto-brd-allgemein/erklaerung-die-autoindustrie-vor-und-nach-corona-konversion-statt-rezepte-von-gestern/

Online gegen die Pläne der Autoindustrie demonstrieren: Für Freitag, den 24. April, um 12 Uhr rufen Fridays for Future (zusammen mit Campact u.a.) auf zur größten Online-Demo aller Zeiten. Dafür nutzen sie die Videoplattform Youtube: Wer teilnimmt, erlebt Reden von Greta Thunberg und anderen Aktivist*innen, sieht Live-Bands und macht bei gemeinsamen Aktionen mit. Es gibt Live-Schalten zu Orten in ganz Deutschland: https://www.campact.de/fridays-for-future/klimastreik/online-klimastreik-am-24-04/

Die o.g. Meldungen untereinander fanden sich auf dem Live-Ticket von M. Fieber & T. Pillgruber (bei gmx & web.de) am 20.4. um 8h40 sowie um 11h43; für ausführlichere Informationen zur Studie der Univeristät Halle siehe https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/112127/COVID-19-Forscher-vermuten-Zusammenhang-zwischen-Luftverschmutzung-und-Todeszahlen

Zu früheren Studien italienischer Wissenschaftler*innen sowie an der Harvard-Universität mit dem selben Ergebnis: https://www.heise.de/tp/features/Luftverschmutzung-erhoeht-Covid-19-Sterberisiko-4699306.html

Zu den Forderungen von VW und VDA: https://www.sueddeutsche.de/panorama/volkswagen-fordert-staatliche-kaufpraemie-in-corona-krise-1.4882562

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/auto-grenzwerte-2020-klimawandel-1.4865763

Noch Ende März hatte VW verlauten lasse, es werde keine staatlichen Finanzhilfen in Anspruch nehmen: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Corona-Krise-VW-will-keine-staatliche-Hilfe,aktuellbraunschweig4198.html

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