Kalifornien hat in zwei Wellen bislang rund 18.000 Gefangene freigelassen aufgrund von Corona und aufgrund der Forderung #freethemall2020. Auch in Deutschland, z.B. in Nordrhein-Westfalen, wurden Menschen wegen der Pandemie vorzeitig verlassen. Der RAV hatte viel mehr gefordert: Kein Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen für ein halbes Jahr sowie die Aufhebung aller laufenden Ersatzfreiheitsstrafen, eine Amnestie für alle Gefangenen mit (Rest-)Strafen von bis zu sechs Monaten sowie die Entlassung aller Personen aus der Abschiebehaft.

Sowieso, Ersatzfreiheitsstrafen könnten auch 'Knast fürs Armsein' genannt werden: Es geht um Bagatelldelikte wie wiederholtes Fahren ohne Fahrschein oder Tagessätze nicht bezahlen zu können. "Freedom should be free" ist der Spruch aus den USA einer der dortigen bailout-Organisationen, die Menschen aus dem Gefängnis "freikaufen": Freiheit darf nichts kosten. Aber generell sitzen die meisten Gefangenen aufgrund von Eigentums-, Vermögens- oder Drogendelikten, und damit für Taten, die eng mit ihren prekären Lebenslagen zusammenhängen. "Es kann nicht sein, dass eine Gesellschaft keinen besseren Umgang findet, als diese Menschen an einem Ort zu isolieren, an dem sie mehr Gewalt erfahren, an dem sie in der Gestaltung ihres Lebens und in der Suche nach Lösungen für persönliche Probleme stark eingeschränkt werden, und der sie krank macht", heißt es in einem Artikel im Schweizer Untergrundblättle.

Es geht durchaus anders, wie das Beispiel Niederlande zeigt. Dort war vor 15 Jahren mit 125 Inhaftierten pro 100.000 Einwohnenden eine der höchsten Quoten in den EU erreicht. Seitdem hat sich diese Zahl fast halbiert (auf 69), und liegt zwar nicht so viel niedriger als in Deutschland (mit 78), doch zeugt sie von einem neuen Trend: weniger auf Strafen, und mehr auf positive Anreize zu setzen. 19 von früher 85 Haftanstalten konnten anderweitig genutzt werden: leider auch für Geflüchtete, aber ebenso für Hotels, Büros für Start-ups und Abenteuerspielplätze.

Grundlage für diese Trendwende waren Forschungsergebnisse des britischen Psychologen James McGuire, die zeigen, dass Gefängnisstrafen lediglich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Menschen weitere Verbrechen begehen. Die gewählten Alternativen sind nicht immer gut (elektronische Fußfesseln, Geldstrafen an das Opfer), aber wohl besser als Knast. Vor allem, wenn es wie bei der Diskussion unter dem plakativen Abolish the Police und eben Prison Abolition geht es darum, statt Uniformierte Repression ausüben zu lassen, Menschen zu schicken, die wirklich helfen können. Sozialarbeiter*innen zum Beispiel. Oder Therapeut*en. Immerhin versteht sich der nieder­ländische Wärter Jim Nijdam in diesem Sinne, wie in dem o.g. Brand Eins-Artikel zitiert: "95 Prozent von denen hatten eine richtig miese Kindheit, und ich möchte, dass sie sich mir öffnen ... Wir sind hier mehr Sozialarbeiter als Wärter.“

Schafft die Gefängnisse ab! fordert auch Thomas Galli, selbst ehemaliger Gefängnisdirektor. "Was hilft es, wenn sich jemand – jeder Autonomie beraubt, aber auch jeder Verantwortung für das eigene Leben enthoben – einige Monate oder Jahre in Haft angepasst verhält und danach mit den Realitäten des Lebens in Freiheit überfordert ist? Was nützt es, während der Haftzeit vor einem Straftäter sicher zu sein, wenn dieser danach mit größerer Wahrscheinlichkeit als zuvor wieder Straftaten begeht?" Und dass Abschreckung nicht funktioniere, zeigten ja schon die Bilder auf den Zigarettenschachteln - geraucht werde trotzdem. "Unsere Gefängnisse nützen also niemandem. Im Gegenteil: Sie schaden uns, vor allem durch ihre trügerische Symbolik. Sie stehen für Gerechtigkeit, jedoch hat die Mehrheit der Straffälligen einen in materieller oder emotionaler Hinsicht besonders belasteten Sozialisierungshintergrund. Es werden nicht grundsätzlich Menschen eingesperrt, die vergleichbare Voraussetzungen wie alle anderen hatten und sich, anders als 'wir', einfach nur gegen das Recht entschieden haben. Das Gefängnis spiegelt vielmehr gesell­schaft­liche Un­gleich­heit – und verstärkt diese." Was sollte also an die Stelle des Gefängnisses treten? Einigen wenigen, wie sadistischen Sexualmördern, müsse zum Schutz der Allgemeinheit lebenslang die Freiheit entzogen werden, das solle jedoch in dorfartigen Einrichtungen und nicht in gerade bei längerer Unterbringung menschen­unwürdigen Gefängnissen erfolgen. Auch wer andere körperlich verletzt oder sonst massiv geschädigt habe, solle in seiner Freiheit beschränkt werden, allerdings so, dass das Rückfallrisiko langfristig minimiert werde. In Betracht kämen hier dezentrale Wohngruppen. Strafe solle vor allem im Leisten gemeinnütziger Arbeit bestehen, wobei eine Wiedergutmachung des Schadens im Mittelpunkt stehe. Viele Betäubungsmittel- und Bagatelldelikte sollten nicht mit Freiheitsstrafe bedroht sein, Fahren ohne Fahrschein oder der Diebstahl geringwertiger Sachen könne ebenso gut als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden.

Oder Fahrscheine abschaffen und gesellschaftliche Formen des Habens (Commons) umsetzen, die alle gut leben lassen.

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